Hier ist der vorläufig komplette Text über die Schweiz – nur ca. 20 Seiten, schon fast ein Buch! Viel Spass beim Lesen, Stöbern und Erstaunt-Sein!
Die Einführung (letzter Blog) bringe ich noch mal, damit alles beieinander ist.
Die Schweiz der Zukunft
Einführung
Menschlich ist eine Gemeinschaft erst dann, wenn sie einen gemeinsamen Geist, eine gemeinsame Beseelung, einen Gemeinwillen entwickelt hat, der als solcher in allen Teilnehmern lebendig ist und diese hebt, kräftigt und bestärkt.
Heinrich Rombach
Die neue Schweiz, philosophisch gesehen. Gibt es etwas Philosophisches an der Schweiz? Aber sicher! Der Philosoph, der hier schreibt, nennt sich auch Narrosoph, und das bedeutet: ein lachender, etwas närrischer Philosoph. Daher wird dieser Text sowohl ernste als auch nicht so ernste Gedanken enthalten. Der Narrosoph darf, wie früher der Narr, die Wahrheit sagen. Und das wird er auch tun.
Die Schweiz hat gute Chancen für eine Philosophie und für Erneuerung. Sie ist einzigartig in ihrer Geschichte, ein Unikum, ein Unikat. Sie basiert auf einer Idee, und das ist selten. Sie entwickelte spezielle politische Strukturen. Und sie hat keine Vision.
So entsteht möglicherweise eine Lücke für Kreativität, und in diese Lücke werde ich springen.
Eine Philosophie der neuen Schweiz ist mir bisher nicht begegnet. Und nur selten eine speziell schweizerische Spiritualität. Als Globetrotter habe ich Länder mit spiritueller Ausrichtung gesehen, das hat mich fasziniert. Kann die Schweiz sich philosophisch und spirituell neu erfinden? Will sie das? Sie wäre wirklich neu, wenn sie das Neu-Erfinden als Spiel geniessen würde.
Rolf, Schweizer, 60-jährig, sagte kürzlich in einem Gespräch: Die Schweiz ist auf hohem Niveau blockiert. Vielleicht kann man den Zustand so lassen, wie er ist. Blockiert muss nicht unbedingt negativ sein, es kann auch „ruhig“ bedeuten. Trotzdem wirkte Rolf bei dieser Aussage nicht glücklich. Er betonte, dass die Schweiz in seiner Jugendzeit ein wahres Paradies gewesen sei: „Wir konnten mal jobben, dann wieder geniessen, und wieder jobben; es war so einfach! Da war alles da. Ich weiss nicht, ob wir jemals wieder dieses Niveau der Freiheit erreichen werden.“
Ich lebe als Deutscher – besser gesagt als Bayer – seit 30 Jahren in der Schweiz. Ich beziehe meine Erfahrungen ein, und ich beschreibe, was ich heute sehe und wahrnehme.
Meine Nähe zur Schweiz wird dadurch erhöht, dass ich mit einer Schweizer Frau verheiratet bin. Dadurch ist mir die Schweiz auch bei den fernsten Reisen sehr nah. Wenn sie ihren Bikini ein „Badkleid“ nennt, dann weiss ich, was in den Augen einer Schweizerin Sache ist. Sie spricht Schweizerdeutsch mit mir, besser gesagt Bärndütsch, und noch heute, nach all diesen Jahrzehnten, erfahre ich neue Worte. Da sie über beträchtliche Phantasie verfügt, weiss ich manchmal nicht, ob diese Wörter tatsächlich existieren. Zum Beispiel spricht sie manchmal davon, dass etwas sie „dubedänzig“ macht. Ich habe inzwischen erfahren, dass das Wort existiert. Aber sie sagte kürzlich, dass ich „umepfize“, weil ich schnell hinter ihr vorbeiging. Dieses Wort wurde zugegebenermassen von ihr in diesem Moment erfunden und verdeutlicht die Lebendigkeit der Sprache. Während in Deutschland oder Frankreich Sprache festgelegt und es eine halbe Todsünde ist, wenn man ein Wort falsch schreibt oder gar ein neues erfindet, ist der Schweizer darüber erhaben und erfindet neue. Zumindest Christina.
Gibt es heute noch so etwas wie eine Staatsphilosophie – und gar eine speziell Schweizerische? Plato hat in seinem Werk „Der Staat“ die Idee der Gerechtigkeit entwickelt. Dies nur als Beispiel einer Grundidee für einen Staat.
Zum Thema der inspirierten Demokratie, und damit der Staatsphilosophie, schreibt Heinrich Rombach:
Wir meinen, dass auch in der Demokratie Geist und Begeisterung ihre Berechtigung, ja Notwendigkeit haben. Treibt man dergleichen aus, so bleibt nicht etwa die ‚reine Vernunft’ übrig, sondern es macht sich ein anderer Geist breit, der platteste, den man sich denken kann, der Geist des Konsums.
Wie kommen wir zur begeisterten, zur geist-erfüllten Demokratie? Oder ist die Schweiz schon dort? Hier eine sehr kleine Umfrage (bitte ankreuzen, was für Sie stimmt):
Die Schweiz ist eine begeisterte, leuchtende und heitere Gemeinschaft.
Die Schweiz ist gerecht und sauber.
Die Schweiz ist ungerecht und langweilig.
Worum geht es mir?
Ich versuche, das eigentliche Wesen der Schweiz zu erfassen. Dabei benutze ich geschichtliche und literarische Quellen. Ich beziehe aber auch Gespräche, Interviews und mein persönliches Gefühl mit ein. Diese intuitive Vorgehensweise bezieht neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein, welche besagen, dass es keine objektive Realität gibt. Vielmehr schafft sich jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit. So ist denn ein Empfinden durchaus ein Wahrheitsfaktor.
Wäre ich ein Schweizer, ich könnte mit Schiller, Wilhelm Tell, sagen:
„Sind auch die alten Bücher nicht zur Hand,
Sie sind in unsre Herzen eingeschrieben.“
Das will heissen, dass man nicht alle Bücher, Abhandlungen und Geschichten über die Schweiz gelesen haben muss, um sie zu verstehen. Christina fühlt sich mit jedem Schweizer auf eine geheimnisvolle Art verbunden. Diese Verbundenheit bezieht sie nicht aus Büchern, sondern aus dem Herzen, wie Schiller so hellsichtig sagt.
Ich versuche, das Wesen, den „Geist“ der Schweiz, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sehen. Dabei bediene ich mich verschiedener, auch ungewohnter Perspektiven: Ich vergleiche die Schweiz mit der Insel der Götter, Bali. Ich spreche mit Menschen, die in ihrer Arbeit und in ihrem Bewusstsein schon einen Schritt in die Zukunft getan haben. Ich rufe Persönlichkeiten in Erinnerung, die wegweisend waren: Niklaus von der Flüe, Werner Zimmermann, Jean Gebser. Ich gehe auf den Gründungsmythos des Wilhelm Tell ein.
Die Schweiz ist inspirierender, als viele glauben! Als Globetrotter habe ich Länder gesehen, die viel spiessbürgerlicher und langweiliger sind. Ich erlebe die Schweizer Bürokratie als hilfreich und kooperativ. Es gibt in vielen Bereichen eine schöne Kreativität und philosophische Offenheit. Schon jetzt ist die Schweiz ein Sammelbecken für Neues, für Psychologie, Philosophie, Spiritualität, wirtschaftliche Experimente. Ich wünsche mir, dass das noch stärker wird, und dass es mit begeistertem Bewusstsein gestaltet wird.
Es ist der Sinn dieses Buches, die guten Ansätze zu zeigen und zu weiteren Taten zu motivieren.
Gesamtschau
Wie bin ich zu diesem Thema gekommen? Welche Grundgedanken inspirieren mich? Was ist das Besondere an der Schweiz, in wenigen Sätzen formuliert? Was ist meine Vision?
Wie bin ich zu diesem Thema gekommen?
Ich bin auf dieses Thema im Halbtraum gekommen, eines Nachts in Bali im Frühjahr 2011. Ich hatte diesen träumerischen Einfall, und da ich mir angewöhnt habe, meinen Impulsen zu folgen, begann ich zu schreiben. Die Ideen kamen, meine Neuronen reagierten über längere Zeit positiv.
Zurück in der Schweiz, sprach ich mit meinen Freunden darüber, und ihre Reaktionen ermutigten mich. Ich bekam Tipps für Bücher und Quellen; wir diskutierten über Schweizer Geschichte und Schweizerische Eigenarten. Mein Freund Norbert beispielsweise wies auf die Unbestechlichkeit und Loyalität der Schweizer als Söldner hin. Er schilderte auch, dass die Helvetier sich zum letzten Mal im Jahr 50 v. Chr. unter ein fremdes Joch, das römische, beugen mussten. Seither gehen sie aufrecht, sind aufrechte Schweizer.
Anschliessend sprachen wir über die Wende von 1989 in Deutschland. Der DDR-Reformer Georg Hain sagte nach dem Fall der Mauer den historischen Satz: Wir gehen nun wieder den aufrechten Gang. Aber nachdem die DDR an Westdeutschland angegliedert war, wurde der Gang wieder etwas gebückter, denn die DDR-Reformer mussten sich in den allermeisten Punkten dem mächtigen westlichen Bruder anpassen.
Die Schweizer gehen seit mehr als 2000 Jahren aufrecht. Das gibt zu Hoffnungen Anlass. Was kommt nach dem aufrechten Gang?
Welche Grundgedanken inspirieren mich?
Meine Grundgedanken sind das Lachen, die Freude und die Kreativität. Aus dem Lachen gestaltet sich mein Leben, gestaltet sich Fülle. Ich will diese göttliche, heitere Energie einfliessen und alles in Leichtigkeit wachsen lassen. Meine Gedanken sind nicht nur intellektuell, sondern meist inspiriert, und ich muss nicht unbedingt Recht haben. Ich schaue die Dinge an, ich bewundere sie, ich stelle kühne Thesen auf.
Jean Gebser, der im 20. Jahrhundert jahrzehntelang bei Bern gelebt hat, inspiriert mich mit seinem Denken. Er hat die Bewusstseins-Geschichte der Menschheit untersucht. Es gibt eine Ordnung in der Geschichte, es gibt aufsteigende Bewusstseins-Stufen. Gegenwärtig leben wir im mentalen, rationalen Bewusstsein. Dieses verwandelt sich in ein integrales Bewusstsein, das Gebser in seinen Werken beschreibt. Ich werde später darauf eingehen. Hier schon einmal ein Gedicht von Gebser, das in konzentrierter Form diesen Übergang beschreibt:
Anstelle der Hektik tritt die Stille und das Schweigenkönnen;
anstelle des ausschließlichen Zweck- und Zieldenkens tritt die Absichtslosigkeit;
anstelle des Machtstrebens tritt Hingabe und echte Liebesfähigkeit;
anstelle des quantitativen Leerlaufes tritt das qualitative geistige Geschehen;
anstelle der Manipulation tritt das geduldige Gewährenlassen der fügenden Kräfte;
anstelle des mechanistischen Ordnens, der Organisation tritt das »In-der-Ordnung-sein«;
anstelle der Vorurteile tritt der Verzicht auf Werturteile, also statt Kurzschluss unsentimentale Toleranz;
anstelle dualistischer Gegensätze tritt die Transparenz;
anstelle der Handlung tritt die Haltung;
anstelle des homo faber tritt der homo integer (der integrierte Mensch);
anstelle des gespaltenen Menschen tritt der ganze Mensch;
anstelle der Leere der begrenzten Welt tritt die offene Weite der offenen Welt.
Die Sprache Gebsers ist anspruchsvoll, und ich werde versuchen, ihn möglichst verständlich wiederzugeben. Grundlegend bei Gebser und anderen ist die Wahrnehmung, dass wir jetzt in eine neue Ära eintreten, in die Ära der Ganzheit, der Erfüllung, und der Liebe. Wir gehen nicht mehr nur aufrecht, sondern wir fliegen, denn wir finden uns in einer neuen Dimension.
In diesen Zusammenhang stelle ich die Schweiz und ihre Vision.
Was ist das Besondere an der Schweiz, in wenigen Sätzen formuliert?
Der Rütli-Schwur ist etwas Besonderes:
Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern
In keiner Not uns trennen und Gefahr,
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Das Schweizerische politische System ist sehr speziell.
Die Schweiz ist eine Insel mit eigenen Gesetzen und eigener Atmosphäre.
In der Schweiz gibt es Raum für Kreativität, neue Ideen, neue Gemeinschaftsformen, wegweisende Philosophie und Spiritualität.
Die Schweiz kann frei handeln und sich neu erfinden, wenn sie will.
Meine Vision für die Schweiz
Die Schweiz entwickelt sich frei, frei und noch einmal frei. Sie entdeckt die neue Freiheit der Freude, sie stürzt sich in die Freude und zelebriert die Freude. In ihrem Freudentaumel entdeckt sie die neuen alten Formen der Gemeinschaft, der Freundschaft, der Liebe, der Verbundenheit, der Solidarität. Daraus entwickeln sich neue Formen des Geldwesens und des gesellschaftlichen Lebens, die auf Vertrauen und Schenken beruhen.
Die Schweiz ergreift die Initiative ohne Not, ohne in Gefahr zu sein, sondern in reiner Bewusstheit. Sie wird ein philosophischer Staat, ein Staat, der Sinn macht, der seine Bürger hebt und mit einbezieht. Heiterkeit erwächst aus der universellen, liebevollen Verbundenheit, aus der Einheit mit dem Universum, aus der vollen Begeisterung.
Werner Zimmermann, ein Schweizer Reformer des 20. Jahrhunderts, „forderte das Höchste“. Die neue Schweiz fordert ebenfalls das Höchste – oder besser, sie zelebriert spielerisch höchste Vollkommenheit.
Die Schweiz wird somit zum Vorbild, sie übernimmt Führung, indem sie sich als erster Staat der Welt neu erfindet. Alles ist möglich in dieser Schweiz, alle wirken zusammen in einem grossen Konzert der Inspiration und der wirtschaftlich-politischen Gestaltung.
Der Philosoph Epikur schrieb, ca. 310 v. Chr., in einem Brief an Menoikeus: „Du wirst niemals, weder wachend noch schlafend, in Unruhe geraten, sondern du wirst leben wie ein Gott unter den Menschen“.
Die Schweiz wird ein göttlicher Staat unter den Staaten sein.
Lebendige Philosophie
Das Leben ist einfach herrlich! Ach, warum schwatzen und schreiben wir, anstatt einfach zu leben! Seid Täter des Wortes!
Werner Zimmermann
Als lebendige Philosophie bezeichne ich eine Philosophie, die existentiell ist. Sie blüht nicht überwiegend in Büchern, sondern im täglichen Leben, in Gesprächen, im Stil, in der Gesellschaft. Ich orientiere mich einerseits an den antiken Philosophen, die ihre Lehre auch praktisch lebten: Diogenes in seiner Tonne, Epikur in seinem Garten, Pythagoras mit seinen göttlichen Zahlen. Andererseits inspirieren mich Menschen wie der amerikanische Naturphilosoph Henry David Thoreau, der in den Wald zog, um, ganz auf sich gestellt, existentielle Erfahrungen zu machen. Er schrieb dazu:
Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewusst zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben. Ich wollte kein Leben führen, das eigentlich kein Leben ist, dazu war es mir zu kostbar.
Die Philosophie an den heutigen Universitäten interessiert mich nicht besonders. Ich habe sie studiert, aber ich habe viel davon vergessen. Sie trifft meines Erachtens nicht mehr. Das haben schon viele lebendige Philosophen vor mir festgestellt.
Ein lebendiger Philosoph wie Karl Jaspers hat bereits gesehen, dass „das Philosophieren“ wichtiger ist als „die Philosophie“. Es gibt keine irgendwie abgeschlossene Philosophie oder Lehre. Vielmehr entsteht sie immer neu in einem kreativen Prozess.
Neben Jean Gebser ist Heinrich Rombach für mich wegweisend. Rombach hat in unvergleichlicher Weise die Fähigkeit des „phänomenologischen Sehens“ entwickelt, die man auch als Wesensschau bezeichnen kann.
Lebendige Philosophie ist Wesensschau von innen, sie beschreibt Phänomene auf einer tieferen oder höheren Ebene, sie sieht das Potenzial, die Möglichkeit, die Vision.
Philosophie heisst „Liebe zur Weisheit“, denn Sophia bedeutet Weisheit. Die alten Philosophen waren Liebhaber der Weisheit. Und so soll denn meine lebendige Philosophie Weisheit vermitteln und auf das Wesentliche neugierig machen.
In unserer Kultur ist die Weisheit weitgehend verloren gegangen. Man spricht nicht von ihr, und man glaubt nicht an sie. Ich habe auf meinen Reisen weise Menschen getroffen, und ich finde Weisheit etwas Wunderbares.
Die antike Philosophie hatte noch einen anderen Zug: Sie stellte sich in Gegensatz zur mythischen Weltsicht, zur Götterwelt. Sie stellte die Vernunft an die erste Stelle. Die Naturphilosophen befanden, dass nicht der Meeresgott Poseidon das Meer bewegte, sondern dass natürliche Kräfte am Werk waren. Diese Philosophie ist eine Vorform der Naturwissenschaft.
Dennoch waren die frühen Philosophen Repräsentanten eines ganzheitlichen Wissens. Sie studierten die Natur-Erscheinungen, sprachen über Staatsphilosophie, aber auch über die Ethik, die rechte Form zu leben.
Später hat eine Trennung der verschiedenen Disziplinen stattgefunden, die immer mehr in Einzelheiten ging. Die Trennung von der Theologie erfolgte, und die Trennung von Philosophie und Wissenschaft.
In Indien und Bali ist alles noch eins. Die Philosophie erläutert und vertieft die Religion, und umgekehrt. Das Leben selbst ist in Bali Philosophie; es gibt kaum Trennungs-Gedanken und Schubladen.
Meine lebendige Philosophie will daher wieder in diese Richtung, in die Ganzheit. Ich beziehe alle Quellen mit ein, seien sie nun wissenschaftlich, philosophisch, soziologisch, psychologisch, spirituell, narrosophisch oder humoristisch. Es geht mir um die Gesamtschau, die aus einer gesunden Intuition und Vorstellungskraft entsteht.
Lebendige Philosophie ist weder links noch rechts. Diese Begriffe sind nicht mehr wirklich lebendig, und viele Menschen wissen nicht einmal, was damit gemeint ist. Der Marxismus hat sehr eindrücklich Schiffbruch erlitten. Die Gräuel der Diktaturen standen in diametralem Gegensatz zu den eigentlichen Zielen des Kommunismus, nämlich eine Paradies der Gerechtigkeit auf Erden zu errichten. Theorien sind meistens falsch, und sie sind praktisch immer zu ernsthaft und verhindern den freien Fluss.
Deshalb stellt die inspirierte Philosophie keine Gesellschaftstheorien auf, entwickelt keine Konzepte, keine konkreten Rezepte für die Reform der Gesellschaft. Dafür gibt es Fachleute, und die machen ihre Sache gut. Wie der Glücksphilosoph Epikur mischen wir uns nicht in die Politik ein, obwohl wir Einfluss auf sie nehmen.
Lebendige Philosophie ist persönlich. Sie bezieht das Persönliche mit ein, denn es ist in jedem Fall beteiligt. Wenn sich jeder seine Welt schafft, so tut das auch der Philosoph. Es ist besser, sich dessen bewusst zu sein, als so zu tun, als läge Objektivität vor.
Das europäische, vernunftorientierte Philosophie-Verständnis löst sich auf und erreicht eine neue Dimension. Diese Dimension ist schon von vielen erreicht worden; sie wird hier nur aufgegriffen und lustvoll weiter entwickelt.
Heinrich Rombach hat das so ausgedrückt:
Das Schweigen ist wichtig, wichtiger als Reden. Das Ahnen ist wichtig, wichtiger als Wissen. Das Spüren ist wichtig, wichtiger als das Bewusstsein.
Philosophie und Narrosophie – Wo beginnt der Humor und wo endet der Ernst?
Ich habe die Narrosophie in den letzten 10 Jahren entwickelt. Sie erblüht aus der Freiheit und weiss, dass das Leben zum Glücklichsein da ist. Als Narrosoph bin ich ein lachender Philosoph, und durch meine meditative Praxis des Lachens haben sich die Neuronen in meinem Gehirn transformiert. So komme ich zu sehr positiven Einsichten.
Die Grenzen zwischen Philosophie und Narrosophie sind fliessend. Die Narrosophie geht vom „Exzessiven Glücklichsein“ aus, sie holt die Sterne vom Himmel, und sie bezieht sich überwiegend auf den Einzelmenschen, der seine Welt selbst schafft. Die Philosophie beschäftigt sich darüber hinaus mit gesellschaftlichen Phänomenen und Visionen.
Was sehe ich zum Beispiel in der Schweiz: Altpapier-Zeitungspakete, die an einem bestimmten Tag am Strassenrand fein säuberlich geschnürt liegen. Äusserst säuberlich! Mit viel Liebe! Das ist eine ganze Wissenschaft, und es gibt in jedem Haushalt einen Zeitungspaketschnür-Meister oder eine -Meisterin. Die Pakete sind am Strassenrand in paralleler Ordnung ausgelegt, so dass der Abstand vom Bürgersteig zum Paket jeweils gleich ist.
So etwas Schönes habe ich nur in Bali gesehen, wo z.B. manche Bungalows für die Touristen aus Naturmaterial, aus Bambus, Stroh und Holz gefertigt sind, in ähnlich schöner Ordnung.
Ich weiss, ich weiss: Es gibt auch in anderen Ländern Abfalltrennung, zumindest in Europa. Aber diese Zeitungspakete haben doch etwas Einmaliges. Ich lese daraus eine grosse Liebe zum Detail ab und stelle mir vor, wie diese Pakete in meditativer Versunkenheit hergestellt werden.
Ich glaube, dass die Schweizer in Dingen der Ordnung und Sauberkeit regelrecht in Trance geraten. Was die Balinesen mit mühsamen Opfergaben, basierend auf jahrhundertelangen Traditionen, und mit raffinierten magischen Techniken, zustande bringen, das gelingt dem Schweizer spielend mit einigen Zeitungen und einfacher Schnur.
Die McKinsey Analyse – Kann die Schweiz eine Marke sein?
Im Jahr 2004 führte die Unternehmensberatung McKinsey im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung eine Analyse der „Marke Schweiz“ im Hinblick auf den Tourismus durch. Ich frage mich: Kann die Schweiz, kann ein Land eine Marke sein?
Zunächst einmal zu den Ergebnissen.
„Die Schweiz ist zuverlässig, hochwertig, aber nicht emotional“, analysiert MCKinsey, und bestätigt damit die allgemeine Meinung. Für die Umfrage wurden 1000 Personen in Deutschland und der Schweiz befragt.
„Für die unter 40-Jährigen stehen trendige Länder mit «emotionalem Kick» im Vordergrund – Länder, die als charmant und temperamentvoll wahrgenommen werden, viele Freizeitmöglichkeiten und ein faires Preis-Leistungs-Verhältnis bieten. Eigenschaften, mit denen die Jüngeren die Schweiz nicht in Verbindung bringen.“
Wir sehen, dass das Bild der Nüchternheit bestätigt wird, und fragen uns, wie Abhilfe zu schaffen ist? 1949 hat Adolf Guggenbühl in seinem Büchlein „Glücklichere Schweiz“ sich vehement gegen dieses Bild des „nüchternen Schweizers“ gewehrt und Beispiele für das Gegenteil gebracht.
Für mich ist die interessanteste Frage, ob ein Land eine Marke sein kann und eine Marke sein will. Marken entstehen aus einer Absicht heraus. Ein Image wird kreiert, ob es stimmt oder nicht. Haben die Eidgenossen den Rütli-Schwur geschworen, um berühmt zu werden, um eine Marke zu schaffen? Haben sie aus diesem Grund gekämpft?
Authentische Identität entsteht nicht aus der Absicht, aus einer künstlichen Konstruktion, sondern aus dem echten Prozess. Charme kann nicht konstruiert werden.
Vielmehr entstehen diese Eigenschaften aus der Lebendigkeit. Um diese Lebendigkeit geht es mir, um die lebendige Philosophie, die sich im Alltag ausdrückt.
Wir wollen sein ein einig Volk
„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
Zusammenstehn in Not und in Gefahr…“
Ist das nicht wunderschön? Ein Volk von Brüdern, Brüdern und Schwestern natürlich. Das ist es doch, wonach die ganze Welt schreit, nach der Brüder- und Schwesterlichkeit, nach der Solidarität, nach der Liebe. Rombach hat auch dazu etwas Schönes geschrieben:
,Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern’, das meint das Phänomen der Fraternität, und dies wird durch einen Schwur zum Ausdruck gebracht, den Rütlischwur. Da erscheint der Schwur richtig am Platz, denn man nennt eine fraternale Sozietät gerne auch eine ‚verschworene Gemeinschaft’…Die Verbrüderten bleiben ‚Eidgenossen’, auch wenn es gerade mal nicht heissen muss: ‚in keiner Not uns trennen und Gefahr’. Die Eidgenossenschaft bleibt bestehen, auch wenn die Sozietät zwischenzeitlich im Modus der Solidarität oder gar der bloss formalen Einheit existiert…
Man muss sich nicht in den Armen liegen, um brüderlich zu sein, man muss nur dazu bereit sein, sich für den anderen einzusetzen, d.h. ‚an dessen Stelle’ zu stehen, für ihn ‚einzustehen’, wenn es nötig ist.
In Zeiten des Raubtierkapitalismus, der Ausbeutung und der Rücksichtslosigkeiten ist diese Philosophie schön, würdig und gut!
Im Gedanken und in der Aktion des Widerstandes gegenüber den herrschenden Mächten äussert sich ein weiterer schöner Zug der Schweiz: Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir trauen unserer Wahrnehmung. Wenn ich eine herrschende Gesellschaftsordnung als ungerecht wahrnehme, dann handle ich gemäss meinem Gewissen. Und da kommt auch der heroische Zug das Wegs, ein einsamer, aber ein edler Weg: Der Starke ist am mächtigsten allein (Ein Ausspruch des Tell in Schillers Drama). Das bedeutet, dass der Einzelne für sich selbst Verantwortung trägt, dass er das tut, was er/sie wahrnimmt. Das kann ihm auch die Wissenschaft in ihrer scheinbaren Objektivität nicht ausreden!
Der amerikanische Naturphilosoph des 19. Jahrhunderts, Henry David Thoreau, hat den Gedanken des zivilen Ungehorsams formuliert, der später auch von Gandhi aufgegriffen worden ist. Die Schweizer haben diesen Gedanken intuitiv bereits im Mittelalter gedacht und umgesetzt.
Dieses Land ist ein Beispiel dafür, wie eine ursprünglich formulierte Solidarität jahrhundertelang durchgehalten wird, wie zunächst ein Staatenbund und dann ein Bundesstaat entsteht, in einem gewachsenen Prozess.
Die Gemeinschaft ist bei Schiller gewissermassen zur Religion erhoben. Das Erleben der Gemeinschaft ist identisch mit dem Erlebnis Gottes. Gott ist nur dann präsent, wenn er in gelebter Liebe, und in gelebter Gemeinschaft, fühlbar ist. Alles andere sind Theorien von Leuten, die nicht wirklich etwas wahrnehmen, sondern intellektualisieren.
„Wenn zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, dann bin ich mitten unter ihnen.“
Dieses Jesus-Wort trifft den Kern der Gemeinschaft.
Und das ist vielleicht die Spiritualität der Schweiz, die ganz konkret und erdverbunden sich auf den Nächsten bezieht, auf das Miteinander.
In Bali habe ich beeindruckende Beispiele für Gemeinschaft gesehen. Ich sehe gewisse Parallelen zwischen Bali und der Schweiz, auf die ich später noch eingehen werde.
Die Balinesen sind unter anderem berühmt für ihren Gemeinsinn. Hier bestehen noch die alten Sippen und die alten guten Sitten. Insbesondere drückt sich dies aus im Reisanbau, einer technisch ausgeklügelten und sozial hoch anspruchsvollen Angelegenheit. Die höher gelegenen Dörfer zweigen das Wasser aus den Bächen und Flüssen ab. Wenn sie zu viel abzweigen, bleibt nicht genügend für die unten liegenden Gemeinden. Die Balinesen müssen sich also in diesen Fragen ständig einigen, und dafür gibt es Komitees, Rituale und Traditionen.
In der Schweiz musste man sich in der Vergangenheit häufig gegenüber äusseren Feinden organisieren. Die Erfolge in diesen Prozessen haben zu einem gewissen Gemeinsinn geführt. Als ich 1982 in die Schweiz kam, habe ich dies gespürt, auf vielen Ebenen.
Ich spüre die Schwester- und Brüderlichkeit heute noch. Wenn wir allerdings Visionen entwickeln wollen, dann dürfen wir uns erlauben, uns noch eine viel stärkere mögliche Solidarität vorzustellen. Nicht nur die Solidarität gegenüber äusseren Bedrohung, sondern eine Solidarität um ihrer selbst willen, die man vielleicht auch Liebe nennen kann.
Perfekte Welt auch ausserhalb der Schweiz
Kann es eine perfektere Welt ausserhalb der Schweiz geben? Wohl kaum. So jedenfalls dachte ich in meinen Anfangsjahren in diesem schönen Land. Und auch keine teurere. Inzwischen wurde ich eines besseren belehrt: Australien ist teurer, und Singapur ist perfekter, zumindest was den Flughafen anbetrifft.
Über das teure Australien möchte ich mich nicht weiter auslassen. Ich erwähne hier nur, dass wir manchmal minutenlang und ratlos um die Käsetheke in einem Supermarkt standen und uns kaum zu einem Kauf entschliessen konnten, weil für 200 g ca. 10 Franken zu bezahlen waren.
Zum Thema Perfektion: Der Flughafen von Singapur wartet mit einem Konzertflügel auf. Ab 18 Uhr spielt dort ein charmanter Pianist Bar-Musik, was die Wartezeit sehr versüsst. Im ersten Stock gibt es eine Internet-Station. Man kann den eigenen Laptop anschliessen. Für den Strom sind Adapter vorhanden, da der Globetrotter mit Singapur-Steckdosen nichts anfangen könnte. Zusätzlich gibt es jeweils gratis einen Internet-Kabel-Anschluss (für sog. Ethernet-Kabel).
Vielleicht gibt es diese Kabel-Anschlüsse und Adapter auch in Schweizer Flughäfen – aber einen Konzertflügel mit Pianist habe ich noch nie gesehen.
Der Pianist gibt mir das Gefühl des Willkommen-Seins und der Leichtigkeit. Er spielt auch so.
Nach dem Einchecken lässt man die grossen Kofferkulis zurück und bekommt dafür kleinere, für das Handgepäck. Bei jedem Gate ist eine eigene Security, so dass man mit dem kleinen Kuli bis direkt vor‘s Gate fahren kann. Der Security Beamte fragt mich, wie es mir heute so gehe.
Im Gate, kurz vor dem Abflug, gibt es dann wieder eine Internet-Station.
Das Höchste der Gefühle ist aber die Tatsache, dass in Singapur heute Männer mit langen Haaren kein Problem mehr sind. Bei meinem letzten Anflug nach Singapur, vor 37 Jahren, hatte ich mir die langen Haare in Java abschneiden lassen, damit ich den Stadtstaat betreten konnte.
Diesmal frage ich den Einwanderungsbeamten, ob es mit langen Haaren noch ein Problem gäbe. „Wir leben in einem freien Land“, ist seine Antwort. „Damals waren die Verhältnisse noch anders.“
Die Welt ist vollkommener und freundlicher geworden, nicht nur in der Schweiz!
Bali und die Schweiz
Unser Aufenthalt in Bali im Frühjahr 2011 war faszinierend. Wir erlebten ein ganzheitliche Welt, einen spirituellen Kosmos, ein Land des Lächelns.
Hier sind die Parallelen:
Bali ist ein Land der Perfektion wie die Schweiz.
Bali ist eine Insel, die Schweiz ist ebenfalls eine Insel.
Bali ist Teil von Indonesien, aber es ist dennoch sehr verschieden davon.
Die Schweiz ist ein Teil von Europa, aber es ist dennoch sehr verschieden von Europa.
Bali geht seinen eigenen Weg; die Schweiz geht ihren eigenen Weg.
Balis Geschichte beruht auf einem Mythos, so wie die Geschichte der Schweiz.
In Bali ist der Gemeinsinn hoch entwickelt – ähnlich wie in der Schweiz.
Bali ist ein Land der Fülle wie die Schweiz.
Bali ist ausbalanciert wie die Schweiz.
Balinesen und Schweizer sind stolz bis zum Freitod
Hier sind einige Unterschiede:
In Bali wird die Perfektion zu Ehren der Götter veranstaltet; in der Schweiz genügt sich die Vollkommenheit selbst.
Bali ist ein Land des Lächelns; die Schweiz ist ein Land der Verantwortung.
Bali ist heilig; die Schweiz ist weltlich.
In Bali gibt es Heiler und Weise; in der Schweiz regiert die Wirtschaft und die Wissenschaft.
Ich erläutere nun einige dieser Punkte.
Die Schweiz als Insel ist symbolisch gemeint. Die Schweiz ist ein Fels in der Brandung des europäischen Geschehens. Sie hat unsichtbare Grenzen um sich gezogen – menschliche, wirtschaftliche, strukturelle. Wenn man in einem Atlas die verschiedenen geschichtlichen Karten Europas studiert, dann wird man oft die Schweiz als Insel finden, als einen weissen Fleck, der anders ist als die Umgebung. Die Schweiz hat eine eigene Währung, sie ist nicht in der EU, sie hat nicht an den Weltkriegen teilgenommen. Wir können sogar sagen, dass die Insel-Charakteristik in der Schweiz stärker ist, gerade weil die Grenzen nicht natürlich sind.
Bali ist verschieden von Indonesien:
Bali ist eine der vielen Inseln Indonesiens und liegt direkt östlich von Java. Im sechzehnten Jahrhundert siedelten die hinduistischen Könige mit ihren Brahmanen und Künstlern von Java nach Bali um, da sie nicht in einer islamischen Kultur leben wollten. Hauptreligion ist der balinesiche Hinduismus, mit buddhistischen und animistischen Elementen.
In Bali durchdringt die herrschende Religion alle gesellschaftlichen Bereiche. Der balinesische Hinduismus unterscheidet sich nicht nur vom Islam in Indonesien, sondern auch vom indischen Hinduismus. Er ist eine weltweit einmalige Erscheinung. Ähnliches können wir von der Schweiz sagen, die z.B. ein einmaliges politisches System entwickelt hat.
Balis Geschichte beruht auf einem Mythos
Ich habe schon erwähnt, dass die hinduistischen Könige mit ihrem Gefolge im 16. Jahrhundert nach Bali übersiedelten. Dieses Königreich wurde Majapahit genannt. Es gibt aber noch weitere Mythen, zum Beispiel die Kampfkraft der Balinesen. Es wird berichtet, dass die Balinesen z.B. beim Kampf gegen die Kolonialmacht Holland in eine Art Trance gerieten, in einen Kampfesrausch, der sie schier unbesiegbar machte. Während des Kampfes, als die Balinesen sahen, dass ihre Niederlage unvermeidbar war, stürzten sich tausende Balinesen ins Meer, da sie lieber sterben wollten als gehorchen. Hier sehen wir eine Parallele zur Kampfkraft und zum Opferungswillen der Schweizer im Mittelalter und danach. Sie gerieten vielleicht nicht in Trance, aber sie kämpften heldenhaft und waren gefürchtet.
Ein weiterer Mythos der Balinesen ist ihre göttliche Abstammung. Alles ist heilig, alles ist den Göttern geweiht. Der heilige Berg, der Gunung Agung, wird aus allen Richtungen angebetet, und sogar die Häuser, Tempel und Betten sind auf ihn ausgerichtet. Die Hohepriester und Schamanen sind Vertreter der Götter.
In der Schweiz geniesst Nikolaus von der Flüe Heiligenstatus; er ist der Landespatron. In seiner Gestalt – und in der Art, wie er verehrt wurde und wird – ist die spirituelle Ausrichtung stark spürbar. Ich komme darauf zurück.
Im übrigen ist in der westlichen Welt die Ausrichtung auf das Göttliche verloren gegangen, und das ist auch in der Schweiz der Fall. Aber dennoch hat die Schweiz einen Mythos, der sich allerdings überwiegend auf die Vergangenheit bezieht. Die Idee der Schweiz, die Willensnation, das Zusammenhalten, die Verteidigung gegenüber feindlichen Mächten, der Mut in dieser Verteidigung – all dies sind Teile des schweizerischen Mythos.
Bali ist ein Land der Fülle
Es mag sein, dass viele Balinesen finanziell gesehen arm sind. Aber ihre Kultur ist reich, so reich! Das Sozialsystem in den Sippen garantiert Sicherheit im Alter. Die Nachbarschaftshilfe ist hoch entwickelt; man baut nie ein Haus alleine. Die wohlhabenderen Familien haben Bedienstete. Der Gast wird in einer Weise verwöhnt, die einfach wunderbar ist – denn der Gast ist Gott, er wird wie ein Gott behandelt.
Bali und die Schweiz sind Länder der Balance
In Bali ist die Kunst der Balance sehr ausgeprägt. Es ist zunächst einmal die Balance zwischen Gut und Böse. Gut und Böse werden nicht so stark gewertet wie im Westen; sie gehören zusammen. Die Opfer der Balinesen richten sich auch an die dämonischen Mächte. Durch diese Opfer wird immer wieder das spirituelle Gleichgewicht hergestellt.
Gemeinde-Angelegenheiten werden in langen Sitzungen ausgehandelt, in einem Gemeinde-Rat, dem Banjar, der aus allen verheirateten Männern, manchmal auch mit ihren Familien, besteht. Diese Gruppierungen – wie auch die Komitees für die Reisfelder – haben eine lange Tradition und beruhen auf Erfahrung und der Verbindung zu den spirituellen Welten.
Wie wir wissen, ist die Schweiz ebenfalls gut ausbalanciert in ihren politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Das System ist stabil und bewährt. Wir können eine Parallele sehen zwischen den Landsgemeinden und den Banjars. Auch in den Landsgemeinden waren früher nur die Männer stimmberechtigt.
In Bali können wir in vielen Bereichen eine Art mittelalterliches Leben beobachten. Mittelalterlich in dem positiven Sinn, den Erich Fromm analysiert hat. Wir machen also eine Zeitreise, wenn wir nach Bali kommen.
Auch im europäischen Mittelalter gab es eine ganzheitliche Kunst, vor allem im Gesamtkunstwerk der Kathedralen. Dort kamen alle Künste zusammen, vom Architekten bis zum Steinmetzen, von den bildenden Künsten bis zur Musik – und alles geschah zum Lobe Gottes und war ein gigantisches, jahrzehnte- oder gar jahrhundertedauerndes Gemeinschaftswerk. Der einzelne Künstler war nicht wichtig; er verstand sich als Handwerker, der zu dem heiligen Werk beitrug. Deshalb waren die Kunstwerke auch nicht namentlich gekennzeichnet. Ähnliches ist heute noch in der sakralen Kunst Balis der Fall.
Der Mensch war eingebunden in einen harmonischen Kosmos und fühlte sich getragen. Ähnliches finden wir heute noch in ungebrochener Kraft in Bali.
Die Balance wird also in Bali vor allem durch diesen spirituellen Kosmos errungen, während sie in der Schweiz mehr auf den gesellschaftlichen und politischen Traditionen beruht.
Die Schweiz ist ein Land der Verantwortung
Werte wie Pflichtgefühl, Genauigkeit, Sorgfalt und Verantwortung werden in der Schweiz traditionellerweise gross geschrieben. Nicht umsonst ist die Schweizer Uhr zum Symbol dieser Genauigkeit geworden.
Die Analyse von McKinsey kommt zu dem Schluss, dass die Schweiz im Ausland als zuverlässig und exklusiv empfunden wird, dass sie aber nicht für Lebenslust, Verspieltheit und Fröhlichkeit steht.
Die Schweiz funktioniert wie ein perfektes Uhrwerk, und das ist schön. In der Perfektion liegt Schönheit. Dennoch kann sich die Frage stellen, was der Sinn des Uhrwerks ist. Eine Uhr dient einem Menschen – welchem Wesen dient das Uhrwerk Schweiz?
Die Lebensfreude ist natürlich vorhanden, und zwar meist in höherem Masse als bei den europäischen Nachbarn. Die Kreativität in der Schweiz ist beträchtlich, die Spielfreude ebenso. Aber ich vergleiche hier mit Bali, und ich entwickle eine Vision.
Ich werde weiter unten aufzeigen, dass in den spielerischen Kräften die Zukunft liegt. Das Verantwortungsgefühl hat seine Wurzeln in der traditionellen „Verantwortung gegenüber Gott“. Aber Gott ist ganz anders, wie wir aus neueren Offenbarungen wissen. Gott hat Spass, und er will die Menschen zu Spass und Lebensfreude und Glück inspirieren. Wenn wir also das neue Gottesbild integrieren, dann singt das Uhrwerk plötzlich, und ruft fröhlich Kuckuck wie die Schweizerische Kuckucks-Uhr.
In der Schweiz regiert die Wissenschaft
Gibt es einen Weg von der Wissenschaft zur Weisheit? Schon manche innovative Denker haben dies bezweifelt. Wissenschaft ist unpersönlich, während die Weisheit persönlich ist. Wissenschaft sieht Teilaspekte; die Weisheit sieht das Ganze. In fortschrittlichen Kreisen wird von einer Vereinigung von Wissenschaft und Spiritualität gesprochen, aber diese Vereinigung ist im Mainstream noch nicht spürbar.
In Bali wird der „heilige Mann“ verehrt, in Europa der „gelehrte Mann“ (oder die Frau). Ich werde auf dieses Thema später noch einmal eingehen.
Christinas Schweiz-Charakteristik
Die Vier ist wichtig. 1. 8. 1291 ergibt zusammen 22, das ergibt vier. Es gibt vier Landessprachen, Das Schweizer Kreuz hat vier Balken, im Gotthard-Gebiet kommen vier Flüsse zusammen.
Vier bedeutet: Viereckig, vollkommen,
Es gibt grosse Variationen in den 25 Kantonen. Man ist erdverbunden, hat einen eigenen Garten. Die Männer meist handwerklich versiert. Traditionelle Musik ist noch beliebt (Jodlerfest), man ist stolz auf die Vergangenheit, die eigene Sprache, und identitäts-bewusst. Handwerker und Arbeiter werden geschätzt, das Standesbewusstsein spielt keine grosse Rolle, Titel sind nicht so wichtig.
Die Schweizer sind mit ihren grossen Industrie-Unternehmen emotional verbunden, z.B. mit der SBB, der Uhrenindustrie, den Schokolade-Marken.
Christina ist selbst eine freie Seele. Sie hat das Schweizer Blut in sich, sie hat es in den Knochen.
Heidi und die neue Schweiz
Als ich im Jahr 1982 in die Schweiz kam, hörte ich nichts von Heidi. Ich war damals Lehrer der Klassen 10 – 12 an einer anthroposophischen Internats-Schule, und für die Jugendlichen war Heidi sicher kein Schulstoff.
Heidi, das klingt konservativ, alte Schule, heimat-schmalzig. Ich bin im Rahmen meiner Forschungen trotzdem neugierig geworden.
Nach der Lektüre des Buches bin ich sehr bewegt. Am Schluss rannen mir die Tränen kreuz und quer herunter, als der Alm-Öhi sich völlig verwandelt, seine Menschenscheu ablegt und zum ersten Mal wieder zu den Menschen und zur Kirche geht.
Wahrscheinlich kennen die meisten Schweizer diese Geschichte, aber ich skizziere sie hier doch noch mal zur Erinnerung und füge meine Gedanken hinzu.
Heidi ist ein Waisenkind und wird von ihrer Tante zum verbitterten Grossvater, dem Alm-Öhi, auf die Alp gebracht. Der haust dort ganz alleine, und ist mit Gott und den Menschen im Unfrieden. Als aber das fünfjährige Heidi zu ihm kommt, verwandelt er sich zum ersten Mal: Er umsorgt es, zimmert ein Bett und einen Stuhl, und gibt ihm zu essen. Heidi ist überglücklich in den Bergen. Das Rauschen der drei Tannen vor dem Hause versetzt es in eine Art Glücks-Ekstase:
Es fing stärker an zu rauschen in den alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und unter den Tannen umherhüpfte und sprang, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt.
Es gibt im ersten Teil des Buches noch viele solcher ekstatischer Momente: Wenn das Heidi mit dem Geissenpeter hoch oben die Geissen hütet und die hohen Berge grüssen; wenn es mit dem Grossvater Brot und Käse isst, und wenn es drunten die blinde Grossmutter von Peter besucht. Nicht umsonst gibt es auf den Almen den „Alm-Juchzer“, das kenne ich auch aus Bayern: Die Seligkeit, die in der Bergeinsamkeit entsteht, in der Freiheit und Grösse der Natur.
Das Leben beim Grossvater ist äusserst einfach, aber das fällt dem Heidi gar nicht auf, da es ja so glücklich ist. Bei der Grossmutter gibt es nur dunkles, nicht mehr ganz frisches Brot.
Ich habe an anderer Stelle das Lob des einfachen Lebens eines pilgernden Philosophen gesungen. Mit Thoreau, der das Leben im Wald der Zivilisation vorzog, bin ich der Meinung, dass das einfache Leben gut ist für uns. Das Buch Heidi wurde 1880 geschrieben, da war so ein einfaches Leben noch an der Tagesordnung, und es erinnert mich auch an die Lebensumstände, die ich in Asien angetroffen habe. Diese einfach lebenden Menschen kamen mir oft sehr glücklich vor.
Tante Dete will, dass Heidi nach Frankfurt kommt, denn dort gibt es das reiche Haus des Herrn Sesemann. Seine Tochter Klara lebt im Rollstuhl und soll durch ein unverdorbenes Schweizer Mädchen aufgemuntert werden. Aber der Aufenthalt wird für Heidi zum Alptraum; es sieht nur Mauern, wenn es aus den Fenstern blickt, kommt sich eingesperrt vor, magert ab und wird ganz traurig.
Der Arzt diagnostiziert schliesslich „krankmachendes Heimweh“, und so wird das Mädchen, das inzwischen lesen gelernt hat, wieder zurück in die Berge geschickt.
Dort geschehen grosse Verwandlungen. Denn der blinden Grossmutter „wird es plötzlich hell“, und zwar im übertragenen Sinn, als Heidi ihr ein Gedicht von der Sonne vorliest, dessen letzte Strophe ich hier zitiere:
Freude die Fülle
und selige Stille
darf ich erwarten
im himmlischen Garten,
dahin sind meine Gedanken gericht.
Durch das Lesen dieses Gedichtes entzündet sie in der Grossmutter das Licht der Freude, der Hoffnung und der Liebe.
„Oh, das macht hell, das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!“
Einmal ums andere sagte die Grossmutter die Worte der Freude und Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so hatte es die Grossmutter noch nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte, trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen, himmlischen Garten hinein.
Wir sprachen hier bereits vom Sehen. Ich habe die Wesensschau geschildert, das phänomenologische Sehen, aber ich kann es auch einfacher sagen: Ich meine das Sehen mit dem Herzen. Und dieses Sehen mit dem Herzen hat nichts mit den Augen zu tun, denn es gibt Blinde, die viel mehr sehen als ihre Mitmenschen.
Es geht darum, dass die Menschen sehend werden, dass sie mit dem Herzen sehen.
Und dabei hilft vielleicht das Ende der Geschichte mit dem Grossvater, in dem sich die Essenz von allem ausdrückt.
Als Heidi den Berg hinaufsteigt und durch das heimatliche „Dörfli“ kommt, hört es von allen Seiten, der Alm-Öhi sei im letzten Jahr, seit Heidis Abreise, noch bitterer, böser und menschenfeindlicher geworden. Das macht ihm aber keinen Kummer. Als es am Abend vor der Hütte anlangt, sitzt da der Grossvater wie eh und je. Heidi springt auf ihn zu, und es ruft nur „Grossvater, Grossvater, Grossvater“, und umklammert den Alten. Der Grossvater sagt auch nichts, aber es werden ihm die Augen nass wie seit Jahren schon nicht mehr. Er empfängt Heidi freundlich, als wäre nichts gewesen, und zeigt sich überglücklich über seine Rückkehr.
Am nächsten Tag liest ihm Heidi seine Lieblings-Geschichte aus dem Bilderbuch aus Frankfurt vor. Es ist die Geschichte vom verlorenen Sohn. Hier wird Heidis Theologie verständlich.
Heidi ist ursprünglich eine Heidin. Sie hat vom Grossvater nie etwas über Gott gehört. Erst in Frankfurt lernt sie – von der dortigen Grossmama, der Mutter des Herrn Sesemann – was es heisst zu beten, und erfährt etwas über Gott. Aber da Gott ihren Gebets-Wunsch nicht erfüllt – nämlich nach Hause zurück zu kehren – hört sie damit wieder auf.
Die Grossmama erklärt ihm später, dass Gott manchmal die Wünsche aus gutem Grund nicht erfülle. Daher muss Heidi noch in Frankfurt bleiben und lernt dann plötzlich und überraschend schnell lesen.
Nachdem es der Grossmutter das schöne Gedicht über die Sonne vorgetragen hat, erkennt es plötzlich die „Weisheit Gottes“. Denn wenn es schon früher von Frankfurt nach Hause gegangen wäre, dann hätte es nicht lesen gelernt und hätte der Grossmutter das erhellende Gedicht nicht vorlesen können.
Das alles erklärt es dem Grossvater an diesem Morgen.
Aber der Grossvater meint, dass jemand, der von Gott weggelaufen sei, nicht mehr zurück könne und von Gott ganz vergessen sei. Heidi erwidert:
„O nein, Grossvater, zurück kann einer doch, das weiss ich, auch von der Grossmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in meinem Buch.“
Dann liest sie ihm die Geschichte vom verlorenen Sohn vor, und dem Grossvater kommen die Tränen, als es liest:
Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn und der Sohn sprach zu ihm: ,Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert dein Sohn zu heissen.‘
Der Vater bringt die besten Kleider und heisst den verlorenen Sohn willkommen.
In der Nacht, als Heidi schläft, kommt der Alte die Leiter hoch und sagt halblaut mit gesenktem Haupt diesen selben Satz: Vater, ich habe gesündigt…
Am Morgen ist es Sonntag, und der Grossvater macht sich fertig für die Kirche. Das ist seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall gewesen. Er zieht seinen besten Frack an, und Heidi trägt sein bestes Kleid. Als die beiden in die Kirche treten, ist ein erstauntes Raunen der Dorfbewohner zu hören. Nach der Kirche besucht der Alte den Pfarrer und eröffnet ihm, dass er nun doch im Winter wieder ins Dorf ziehen wolle, damit Heidi in die Schule gehen kann.
Als er wieder ins Freie tritt, wird er von der Gemeinde herzlich begrüsst. Er ist nun wieder Mitglied der Gemeinschaft, er hat sich mit Gott und den Menschen versöhnt.
Diese Geschichte basiert auf der Spiritualität, die im 19. Jahrhundert allgemein in der Schweiz verbreitet war. Die Verwurzelung in der Religion war noch selbstverständlich. Die Hierarchien waren klar; der Pfarrer war der Wegweiser zu Gott, der Familienvater repräsentierte Gott für die Familie. Die Menschen fühlten sich in dieser Weltsicht zuhause, ähnlich wie sich die Balinesen heute in ihrer Spiritualität zuhause fühlen. Sie hatten eine göttliche Heimat.
Der Schluss der Geschichte liest sich so:
Nun aber war es Zeit zum Aufbruch und der Grossvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen entgegenglänzte.
Hier drückt sich Frieden aus, Versöhnung, Erfüllung, Glück, Liebe. Alles was wir brauchen, alles was wir verdienen. In den menschlichen Beziehungen zeigt sich Gott. Heidi ist eine Künstlerin der menschlichen Beziehungen, eine Künstlerin der Glücksfähigkeit, ein unverdorbenes Kind mit grosser Weisheit. In ihrer Nähe verwandelt sich alles.
Wir können Parallelen zur modernen Quantenphysik ziehen, die erkannt hat, dass jeder Mensch sich seine eigene Welt selbst schafft. Es gibt nicht „eine Welt“, es gibt Milliarden von verschiedenen Welten, die sich jeder Mensch und jedes Wesen selbst erschafft. Der Mensch kann im Gegensatz zu den Tieren diesen Akt bewusst vollziehen und seine Welt verwandeln, wie er will.
Sehr deutlich zeigt sich der Zusammenhang beim Grossvater. Als verbitterter Mensch sieht er alles negativ. Da helfen keine Sonne, keine Naturschönheit, keine Freundlichkeit der Mitmenschen. Er lehnt alles ab, er hat sich von der Welt gewissermassen verabschiedet und lebt in ständigem Groll. Diese Welt hat er sich geschaffen und schafft sie ständig weiter. Sie sitzt in seinen Zellen, und diese Zellen verlangen immer wieder nach dieser Art von Unglück.
Als Heidi zu ihm kommt, erlebt er eine erste Verwandlung. Er wird weicher und gütiger.
Die grosse Transformation am Schluss entspricht derjenigen vom Saulus zum Paulus. Saulus stürzte vom Pferd und verwandelte sich. Der Grossvater empfindet durch die Geschichte vom verlorenen Sohn seine „Sünde“. Es ist nicht wirklich eine Sünde, aber es ist ein grosser Schmerz. Eckhart Tolle hat diesen Zustand als „Schmerzkörper“ beschrieben. Es verwandelt sich alles. In einem einzigen Augenblick ist seine Welt eine andere; er sieht das Licht, er spürt die Liebe von Heidi, und er fasst Vertrauen zu den Menschen.
Die moderne westliche Welt ist in ähnlicher Weise „gottesfern“, wie es der Grossvater war. Vielleicht wird sich erst dann etwas ändern, wenn uns reihenweise kreuz und quer die Tränen herunterlaufen. Sie ist zwar nicht im selben Mass verbittert, aber sie ist ziemlich negativ. Die Versöhnung mit Gott hat noch nicht statt gefunden. Natürlich spreche ich hier von einem anderen, viel fröhlicheren Gott als dem Gott des Grossvaters; aber es geht hier gar nicht um Gott, sondern um den Prozess des inneren Friedens, der Glückseligkeit, die aus der reinen Existenz grundlos entsteht wie bei Heidi. Solange wir denken, dass die Glückseligkeit erst dann kommt, wenn unsere Voraussetzungen erfüllt sind, wird sie sich nicht einstellen.
Was hat dies mit der neuen Schweiz zu tun?
Viele Schweizer identifizieren sich mit Heidi wegen seiner Natürlichkeit und Einfachheit. Bei Adolf Guggenbühl habe ich gelesen, dass der Schweizer unhöflich sei, weil er die „höfischen Sitten“ in ihrer Künstlichkeit ablehne. Im Wilhelm Tell drückt sich an vielen Stellen etwas Ähnliches aus: Der Ur-Schweizer schätzt die Schönheit und Einfachheit des Lebens in der Natur. Er will nicht die Buchstaben-Bildung, sondern die Herzens-Bildung.
In eine moderne Sprache übersetzt, können wir Folgendes sagen: Die Kultur der Intellektualität und der „Grosstuerei“ ist zu Ende. Das europäische Grossmachts-Gehabe mit Kolonisierung und Missionierung ist ein Auslauf-Modell. Profit-Denken und Materialismus haben ausgespielt. Die Grossstadt erweist sich als unpersönlicher Beton-Bunker, in dem Menschlichkeit nur schwer möglich ist.
Angesagt sind neue Gemeinschaften im Sinne des Gartens von Epikur, oder auch Bolo-Bolo-Wohneinheiten mit Phantasie und Liebe.
Angesagt ist eine neue Kunst der Intuition und des Grundvertrauens, auf einer neuen, grenzenlosen Spiritualität begründet: Das integrale Bewusstsein, wie Gebser es beschrieben hat.
Noch immer gibt es in der Schweiz mehr Intuition, mehr Freiheit, mehr gewachsene Traditionen als in anderen Teilen Europas. Diese Fähigkeiten wollen zeitgemäss umgewandelt sein. Lest „Heidi“ und lasst euch die Tränen herabkullern! Lebt euer Leben mit der selben Leidenschaftlichkeit wie Henry David Thoreau (s. Kapitel „Lebendige Philosophie“), auf dass nicht der Satz wahr sei, den er 1845 geschrieben hat:
Die Mehrzahl der Menschen bringt ihr Leben in stiller Verzweiflung hin. Was wir Resignation nennen, ist nichts anderes als chronische Verzweiflung. Aus der hoffnungslosen Stadt geht man aufs hoffnungslose Land und sucht Trost an der Schönheit von Nerz und Bisamratte.
Heidi glaubt an seine Gefühle, an seine Wahrnehmungen. Es ist unglücklich in Frankfurt und rebelliert so lange, bis es endlich wieder nach Hause darf, in seinen Himmel.
Wie viele von uns sind unglücklich an ihrem Arbeitsplatz, in ihrer Beziehung, in ihrer Familie, und akzeptieren es trotzdem? Weil sie Angst vor einer Veränderung haben? Wie viele von uns sind sozusagen programmiert darauf, das Unglück zu akzeptieren, weil ja das Leben sozusagen immer hart ist?
Der Inder Deepak Chopra sagt Folgendes im Zusammenhang mit einem neuen Führungs-Stil:
„Höre auf dich abzumühen: Der erste Schritt ist es, zu realisieren, dass das Leben nicht zum Kämpfen da ist. Es macht einen nicht zum Führer, wenn man hart ist im Überwinden von Widerständen.
Nehmen wir einmal an, wir hätten mehrere Erdenleben. Stellen wir uns vor, dass wir vor einer erneuten Inkarnation in einem geistigen, vollkommenen Reich leben. Danach kommen wir auf die Erde und erleben das, was dort der Fall ist.
Ich ziehe eine Parallele zu Heidi: Sie hat auf der Alm sozusagen im Himmel gelebt, in vollkommener Glückseligkeit. Sie hat alles was sie braucht und jubelt sozusagen ständig.
Als sie nach Frankfurt kommt, landet sie sozusagen auf der Erde, sie „kommt auf die Welt“, wie die Schweizer so schön sagen. Alles ist eng, und diese Enge wird am drastischsten repräsentiert durch das Fräulein Rottenmüller, die fürchterliche Gouvernante. Heidi fühlt sich eingesperrt – so wie wir uns möglicherweise in unserem Körper eingesperrt fühlen, wenn wir aus der geistigen Welt kommen. Und so, wie wir abgeschreckt sind, wenn wir erst einmal all die Absurditäten des Menschenlebens realisieren. Viele von uns vergessen dann – anders als Heidi – die Schönheiten des Himmels. Wir revoltieren vielleicht, und wenn das nichts hilft, resignieren wir. Später entsteht dann jene stille Verzweiflung, von der Thoreau spricht. Wir haben unsere himmlische Herkunft vergessen.
Sensible Seelen gewöhnen sich nicht daran und sehnen sich vielleicht nach der himmlischen Welt zurück. Oder sie versuchen, etwas anderes aufzubauen, eine Gemeinschaft zu gründen, die Welt zu verbessern, die Liebe zu leben.
Recht so! Rebellieren wir gegen eine unmenschliche Welt und bauen wir eine neue! Der erste Schritt ist, wie Heidi zunächst einmal die Glückswelt im Inneren zu erleben und ihre Realität voll und ganz wahrzunehmen. Alles weitere ergibt sich von selbst.
Andreas Tröndle: Der Tanz von Körper, Geist und Seele
Interview mit Andreas Tröndle
von Roland Schutzbach
Andreas Tröndle ist leidenschaftlicher Tänzer, ehem. Jugendseelsorger, Theologe, Sozialpädagoge. Er wurde von Gabrielle Roth zum Fünf-Rhythmen- Lehrer ausgebildet und autorisiert.
Er ist dipl. Gruppenleiter in Themenzentrierter Interaktion (TZI) und leitet zahlreiche Körper-, Tanz- und Bewegungsworkshops in der Schweiz und Deutschland.
Dieses Interview wurde im Juni 2011 aufgenommen und beginnt sehr spontan.
Andreas Tröndle: Was ist real, was ist nicht real? Ist der Workshop wirklicher als die Alltagswelt? Ich weiss keine Antwort darauf.
Roland: Jetzt sind wir bereits auf der Ebene der Philosophie.
Andreas: Das ist wahrscheinlich wie beim Lachyoga. Da hast du es vielleicht noch extremer. Wenn auf einmal alle lachen, und zwar richtig ekstatisch loslachen. Wahrscheinlich zieht man danach nicht mehr so leicht ein Miesepeter-Gesicht auf. Wenn man länger lacht, dann verändert man sich wohl etwas.
Roland: Wir lachen nicht nur zusammen, wir reden auch darüber, wir werten den psychologischen Prozess aus. Jeder schaut seine Verhaltensmuster an, die ihn im Alltag davon abhalten, fröhlich und entspannt zu sein. Dadurch gibt es einen Erkenntnisgewinn. Danach lacht man wieder darüber, über sich selbst zum Beispiel. Es ist ein beglückendes Erlebnis, eine solche Gruppe zu inspirieren. Die meisten gehen mit voller Kraft in den Prozess und profitieren ganz offensichtlich davon, sie wachsen im Un-Ernst. Das ist toll.
Mein Buch über die „Neue Schweiz“ soll inspirieren und auch zum Schmunzeln bringen. Ich weiss noch nicht, ob mir das gelingt in der Schweiz, die ja berühmt ist für ihre Ernsthaftigkeit.
Andreas: Einerseits. Aber die Schweiz hat auch immer wieder andere Seiten. Es gibt eine Szene, eine Art Subkultur, die zum Beispiel in der Satire enorm kreativ ist. Die „verbohrte Seite“ wird ideenreich und künstlerisch thematisiert – viel mehr als beispielsweise in Deutschland. Es gibt diese wunderbare Künstlerszene. Ähnliches gilt für die Spiritualität. Es gibt kein Land auf dieser Erde, welches wie die Schweiz das gesamte spirituelle Spektrum zusammen bringt. Jeder berühmte Autor oder spirituelle Lehrer kommt mal in die Schweiz. Und das findet auch Anklang und ein interessiertes Publikum. Man denkt zwar an Enge und Berge und konservatives Gedankengut, an mangelnde Offenheit. Aber das ist wie gesagt gar nicht der Fall. Das finde ich spannend an der Schweiz.
Roland: Wir sind bereits mitten im Thema, wir sehen das Positive. Kannst du Beispiele nennen?
Andreas: Es gibt viele, zum Beispiel auch in der Kirche. Ich komme von der Kirche her, ich bin Theologe.
Roland: Du bist Theologe? Das finde ich höchst interessant!
Andreas: Katholischer.
Roland: Katholischer! Hahahaha, super!
Andreas: Ich habe sechs Jahre lang als Jugendseelsorger gearbeitet. In der Kirche habe ich Ähnliches erlebt. Es gibt extrem traditionelle Gruppen und Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Haas, oder Pro Ecclesias. Das sind Gruppierungen, die päpstlicher als der Papst sind. Dann gibt es aber auch Freiräume wie zum Beispiel in der St. Jakobs-Kirche in Zürich.
Roland: Die kenne ich. Da hatten wir mal ein grosses Lach-Event, ein Osterlachen; ein phantastisches Ding mit Fernsehen, mit dem interessanten Pfarrer.
Andreas: Anselm Burr. Das ist so einer. Er hat mich hineingeholt in diese Kirche. Er ist sehr offen für solche Dinge. Er ist auch aus Deutschland; aber er findet in der Schweiz viel eher einen Ort, wo sie diesen radikalen, revolutionären Ansatz realisieren können. Ich finde, in der Schweiz sind die Gegensätze sehr gross, es ist viel nebeneinander möglich.
Roland: Es sind offensichtlich viele Freiräume da. Beispielsweise die freien Kirchen, oder das Schlössli Ins im Berner Seeland, oder die Freikörperkultur mit dem Gelände bei Thielle am Neuenburger See.
Andreas: In der Musikszene gibt es zum Beispiel einen ganz neuen Mix aus Tradition, Moderne und asiatischen Elementen. Das ist so kreativ und lustvoll, aber auch mit einem Riesen Engagement verbunden. Vielleicht kommt das auch aus dem Leiden.
Roland: Wie meinst du das?
Andreas: Das sind alles Menschen, die unter der Enge gelitten haben. Sie haben oft eine Kindheit in der Schwere und unter Kontrolle erlebt. Dadurch hatten sie den starken Drang, auszubrechen. Das gibt einen kräftigen Motor für neue Ideen. Deswegen geben sie so viel Herzblut hinein in dieser Musik-Szene, oder auch in der Kirche oder in der Spiritualität. Das ist wie eine Raupe, die immer eingeschlossen war. Irgendwann muss sie ihre Kraft entwickeln. Dann kommt etwas sehr Starkes und Herzhaftes.
Roland: Die Enge hat also grosse Vorteile! (Beide lachen)
Roland: Du bist Theologe. Mich interessiert die Theologie. Hast du einen Gottes-Begriff?
Andreas: Ich gebrauche gelegentlich das Wort „Gott“. Gestern zum Beispiel machten wir ein Ritual. Wir machten eine Partner-Übung und schauten einander an mit dem Thema: Was hat Gott, was hat das Universum hier für ein Wesen geschaffen? In dieser Vollständigkeit, in dieser Einzigartigkeit. Das ist aber ein bisschen irreführend, denn ich glaube nicht an Gott, der etwas erschafft, nicht an das normale Gottesbild. Das gibt es für mich in dem Sinn nicht. Ich benutze es manchmal, aber ich bin letztendlich überzeugt davon, dass es kein Wesen ausserhalb von uns gibt, das man Gott nennen könnte. Hingegen bilden wir alle ein grosses Bewusstsein, das enorm schöpferisch und kreativ ist. Dieses Bewusstsein erzeugt immer wieder neue Formen – z.B. Menschen oder Planeten. Das göttliche Spiel spielt sich selbst. Das ist nicht eine Person Gott, sondern wir sind alle mit drin, du und ich. Wir sind alle Teil von dieser Schöpfungsenergie, die immer neu kreiert, die einfach Lust dazu und Spass daran hat. Die Tragik – und da bin ich gespannt, was du dazu meinst – besteht im Leiden. Warum gibt es das Leiden? Die Theodizee-Frage. Wenn wir davon ausgehen, dass wir ein göttliches Bewusstsein haben, das alles kreiert und erschafft – warum erschaffen wir dann auch das Leiden, die Dramen und die Katastrophen?
Roland: Ich will vorher noch etwas zum Gespräch über Gott sagen. Ich habe in dieser Hinsicht auch einen Entwicklungsprozess durchlaufen, und zwar durch meine beiden Indien-Reisen und die Begegnung mit der balinesischen Kultur. Ich hatte vorher ein ähnliches Verständnis wie du. Dann ist mir Gott in Indien begegnet.
Andreas: Wie?
Roland: In Gesprächen, in der Atmosphäre, in der Beschäftigung mit den heiligen Schriften der Inder. Aber es ist natürlich der lachende Gott. Später habe ich die Bücher von Neale Donald Walsch gelesen: Gespräche mit Gott. Das sind wunderbare Bücher, die die Theologie völlig neu definieren. Das Gottesbild wird befreit von all den alten Mustern, die wir damit verbinden – im Sinne des göttliches Spiels, wie du es nennst, im Sinne des humorvollen Gottes. Da kommt es dann gar nicht mehr darauf an, ob es Gott gibt oder nicht. Gott selbst sagt in diesen Büchern, dass die Menschen ihn gar nicht brauchen. Und vor allem braucht dieser Gott uns nicht, er braucht und erwartet nicht unsere Gebete oder unsere Verehrung. Er will, dass wir in der Fülle sind und das Leben voll geniessen. Wenn wir im Fliessen und in der Heiterkeit sind, dann werden wir selbst zu Göttern. Das entspricht fast genau dem, was du gerade gesagt hast. Ich habe aber auch diese personale Vorstellung, dass es eine Kraft gibt, die höher ist als ich, die dieses Feld erzeugt. Es entsteht heute eine ganz neue Theologie, die sich vermischt mit Psychologie, mit Spiritualität. Das wird eine Philosophie ohne Grenzen, die alles miteinbezieht, und die sich vor allem im Zwischenmenschlichen äussert.
Andreas: Gibt es etwas, das nicht göttlich ist?
Roland: Das Nicht-Göttliche entsteht, wenn ich mich abtrenne vom Göttlichen. Dann erzeuge ich Leiden als Einzelner, weil ich mir meiner Göttlichkeit nicht bewusst bin. Ich bin in der Trennung; ich bilde mir ein, ein eigenes Individuum zu sein.
Die mystische Botschaft spricht sich langsam immer mehr herum: Dass wir eine viel grössere Fülle haben, und dass wir das Leiden nicht kreieren müssen. Aber natürlich gibt es auch Leiden, das von aussen kommt. Da ist es dann die Kunst, diese Grundheiterkeit, die innere Kraft so zu entwickeln, dass man sie auch in einer Leidens-Situation beibehalten kann. Die alten Philosophen haben diese Fähigkeit bereits entwickelt. Sie haben sich selbst geschult, und sie haben auch darüber gesprochen und geschrieben: Den Frieden selbst in sich zu erzeugen.
Andreas: Das ist eine wunderbare Fähigkeit. Ich frage mich manchmal, ob es nicht auch wichtig ist, ein Ego zu kreieren und Trennung zu erleben? Denn dann können wir uns entscheiden. Wir sind eigentlich dafür gemacht, mit dieser wunderbaren göttlichen Kraft eins zu sein. Aber wir können uns dagegen entscheiden. Das kann kein Tier. Wir Menschen bauen uns ein Ego, wir bauen uns schreckliche Muster auf, mit denen wir uns selbst zerstören können. Kriege sind ja nichts anderes als Ausdrucksformen dieses Ego. Jetzt frage ich radikal: Ist das nicht wiederum ein Teil des göttlichen Spiels?
Roland: Natürlich ist es das! Das sagt auch Neale Walsch – bzw. sein „Gott“. Das war für mich sehr erhellend. Die Polarität ist bewusst geschaffen, damit der Mensch sich in der Freiheit entscheiden kann. Sonst wäre er automatisch göttlich, wie zum Beispiel die Engel. Das ist wie ein Kreislauf. Deswegen können wir immer sagen: Es ist alles vollkommen, so wie es ist. Jeder ist an dem Punkt, an dem er gerade sein will.
Andreas: Stimmt. Ich glaube das auch. Es ist allerdings tragisch, wenn man Menschen trifft, die verstrickt sind im Ego-Leiden. Sie haben keine Ahnung, und sie suchen etwas anderes. Ist es nicht trotzdem ein wenig anmassend zu sagen: Du hast dich selbst dazu entschieden. Das ist deine Freiheit. Oder nehme ein Missbrauchs-Opfer, das schweren Missbrauch erlebt hat. Können wir dann sagen, das ist ein Teil des göttlichen Spiels? Das ist deine Rolle in dem göttlichen Spiel?
Roland: Man findet natürlich immer Beispiele, die an die Grenzen führen. Ich bin der Meinung, wir sollten nicht zu weit in theoretische Überlegungen hineingehen, sondern wir sollten unser eigenes Leben zum Massstab nehmen. Wo bin ich Schöpfer? Wo bin ich Opfer? Ist es mir möglich, mein Leben zu gestalten? Wir sind nicht verantwortlich für andere, sondern für uns selbst. Es ist mein Leben, das ich mir kreiere mit meinen Gedanken, mit meiner Lebensführung. Wenn es mir gelingt, die Verbundenheit, oder das göttliche Spiel, dauernd zu realisieren, dann hat das eine segensreiche Wirkung auf die Umwelt. Es strahlt aus in meinem Umfeld, und es strahlt aus in deiner Umwelt und in deinen Kursen.
Bitte erzähle mir doch ein bisschen genauer von deiner Arbeit.
Andreas: Ich praktiziere ganzheitliche Körperarbeit. Ich nenne es nicht einmal Tanzen, obwohl es auf meiner Webseite heisst „Tanz dich ganz“. Es ist mehr als Tanzen. Ein Teilnehmer hat gestern eine wunderbares Beispiel erzählt. Er hat von einer Schwägerin berichtet, die in Bern eine Tanzschule leitet. Ich habe bei ihr mal ein Seminar geleitet; sie schaute rein und sagte später zu ihm: „Die können ja gar nicht tanzen! Die können wirklich nicht tanzen!“ Das habe ich sehr schön gefunden, denn es geht wirklich nicht ums Tanzen-Können, sondern es geht darum, wie ich diesen Körper bewohne, den ich irgendwann mal bekommen habe. Wie kann ich mich als ganzes, lebendiges, vollständiges und verbundenes Wesen fühlen? Der Körper ist so nah bei mir; wie kann ich mich eins mit ihm fühlen? Es geht um die Einheit von Körper, Geist und Seele. Wir haben eine grosse Fähigkeit – und ich besonders, und das ist meine persönliche Leidens-Erfahrung – uns vom Körper zu trennen. Der Geist macht etwas Eigenes, und der Körper wird gar nicht gefragt. Das habe ich z.B. sehr schön in einem Benediktiner-Kloster gesehen. Wenn die Mönche durch den Kreuzgang hereinkommen, dann strecken sie den Kopf nach vorne, einer nach dem anderen; der Körper wird hinterher geschleppt. Das ist vielleicht ein extremes Bild, aber es trifft: Das Denken hat sich vom körperlichen Empfinden getrennt. Wir haben unserem Verstand eine so starke Eigen-Dynamik gegeben, dass wir den Körper gar nicht mehr wahrnehmen. Das ist das Grundleiden. Auch bei mir. Ich habe das in meiner Kindheit erlebt. Ich war nicht verbunden mit dem Körper, habe gegen den Körper gearbeitet. Ich wollte toll sein, ich habe den Körper als Instrument benutzt, zum Beispiel als Marathon-Läufer. Ich habe den Körper funktionalisiert für ein Ziel, für eine Idee.
Die Wahrnehmungsebenen des Körpers, die mit der Seele verbunden sind, habe ich nicht mehr wahrgenommen. Aus diesem Leiden, aus dieser Trennung heraus ist das Bedürfnis entstanden nach einer neuen Einheit. Es gibt viele Wege, unter anderem die Fünf- Rhythmen. Diese haben mich am meisten fasziniert. Als ich zum ersten Mal an einem Seminar teilnahm, sah ich, was da passiert: Die Menschen fangen an, dieses Feld wieder zu beackern. Wenn sie zurück zur Einheit finden, dann entstehen magische Momente. Sie agieren dann ganz anders, als wenn sie in der Trennung sind. Sie gehen anders in Verbindung, sie nehmen anders wahr, sie entwickeln andere Verhaltensweisen. Die Intuition wird geschult. Der Verstand ist auch noch da, den brauchen wir weiterhin – aber die Trennung ist überwunden. Das ist ja unsere grösste Sucht: Wenn es ein Problem gibt, stellen wir sofort einen Plan auf. Plan A, Plan B, usw. Jetzt müssen wir dieses oder jenes lösen. Wir gehen sofort in den Verstand. Wir haben keine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, zunächst mal in den Körper zu gehen. Wie fühlt es sich an, wenn ich ganz bei mir bin? Einmal lauschen, was dort ist. Was entsteht dann? Wirkt es anders?
Ich bin ganz sicher: Natürlich wirkt es anders. Wenn wir auf den Körper hörten statt zu grübeln, würden wir anders mit Problemen umgehen. Das Grübeln verstärkt meistens den Konflikt.
Roland: Das hat sicher mit den beiden Gehirnhälften zu tun.
Andreas: Hast du von der Frau in USA gehört, bei der die linke Gehirnhälfte völlig weg war? Nur die rechte war intakt; sie konnte gerade noch realisieren, dass sie im Krankenaus anrufen musste. Die Erfahrung der rechten, der intuitiven, war absolute Glückseligkeit, war Bliss, göttliches Eins-Sein. Sie hat aber dieses Leben nicht verlassen. Sie hat sich entschieden, zurück zu kommen, und von dieser Realität zu berichten. Sie wollte und will den Menschen diese Wirklichkeit bewusst machen. In dieser intuitiven Welt ist so ein Reichtum; aber die meisten von uns können wenig damit anfangen, weil wir in der Trennung leben.
Roland: Wie ist es bei dir? Hast du Erlebnisse von Glückseligkeit, beim Tanzen oder sonst in deinem Leben?
Andreas: Natürlich gibt es die, sonst würde ich es gar nicht machen. Sie sind der eigentliche Motor, und sie beseelen mich immer wieder.
Es ist wunderbar! Ekstase, unio mystica in der Bewegung. Der Körper wird eins mit dem, was ist: Mit der Musik, mit den Menschen, mit mir selbst. Es ist unglaublich, denn alles geschieht von selbst. Du machst nichts mehr. Es ist kein kontrollierender Verstand mehr da, der dir sagt, dass du dies oder das tun sollst. Die Impulse geschehen einfach. Sogar Andreas als Leiter verschwindet, denn es passiert genau das Richtige aus der Gruppe heraus. Du kannst einfach zuschauen. Das ist ein genialer Zustand. Irgendwann schaltet sich dann doch…
Roland: Bleiben wir noch bei diesen genialen Augenblicken. Ich vermute, dass das in einem deiner Kurse, mit 30 bis 40 Menschen, geschieht?
Andreas: Es gibt Momente, wo mir die Anleitungen, die Worte die ich sage, einfach von selber kommen. Da fliesst etwas. Manche bezeichnen das als Channeling, das heisst, ein Kanal zu sein. Kein Gedanke stört. Du bist nur noch offen, und die Worte kommen und fliessen. Du sagst etwas und merkst: Das kommt direkt an bei den Menschen. Das sind magische Momente, du hast den ganzen Raum. Besser gesagt: Du bist der Raum. Es gibt keine Trennung mehr. Es gibt auch niemand mehr, der herausfällt. Du weisst, du hast mit allem in diesem Raum eine Verbindung. Es gibt nichts Falsches mehr. Was gesagt wird, gilt für jeden in dem Raum. Es ist nicht einfach, das zu beschreiben, da es so anders ist. Es gibt kein agierendes Subjekt mehr. Es gibt nur noch das Ganze. Jeder im Raum weiss, dass dieses Spiel richtig und gut ist. Es ist wunderbar, in diesem Feld zu sein. Es wird von niemandem gemacht.
Roland: Es ist wohl eine Art Gruppen-Hebung. Die Gruppe weiss von der Richtigkeit, die Gruppe weiss, dass es ein Spiel ist, die Gruppe ist einfach drin.
Andreas: Genau.
Roland: Der Prozess übernimmt die Regie.
Andreas: Es gibt auch keinen Widerstand mehr. Weg ist der Widerstand! Ich sehe häufig: Da ist jemand im Widerstand. Aber selbst diejenigen, die sonst Widerstände haben, sind jetzt irgendwo berührt, sind im Fluss, jeder auf seine Art. Bei jedem passiert etwas anderes. Das Individuelle ist noch da, obwohl es doch so ein starkes Gemeinschafts-Erlebnis ist, wo jeder spürt: Es ist genau richtig und es ist gut. Das sind göttliche Momente. Die Gefahr ist, dass man diesen Momenten nachhechelt. Dann ist man wieder draussen.
Roland: Es wird dann absichtsvoll.
Andreas: Ja, absichtsvoll. (Beide lachen). Deswegen bin ich immer ein wenig vorsichtig, darüber zu reden. Dann kommen nämlich die Menschen und sagen, oh, da will ich auch dabei sein, das find ich toll, wie geht das, was muss ich tun? (Roland lacht.) So geht es eben nicht. Man strengt sich an, will dort hin kommen und fragt sich: Verdammt, wieso geht es nicht? Dann ist man genau wieder in dem Karussell. Oder, wenn ich merke: Cool, jetzt habe ich gerade was ganz Tolles gesagt, ich bin gut – dann bin ich gerade wieder im Ego-Spiel oder im Leiden. Denn es gibt in diesem Spiel keinen Andreas mehr, kein Ego.
Roland: Super. Das göttliche Leben ist mein Gebiet. Ich kann es auch für mich allein kreieren, ich bin die ganze Zeit da drin. Auch mit meiner Frau bewege ich mich in diesem Feld. Aber natürlich ist die Frage, wie so etwas in einer Gemeinschaft entstehen kann.
Andreas: Du bist mit deiner Frau dauernd in einem spielerischen Feld?
Roland: Ja, ja. Das ist fantastisch.
Andreas: Wir macht ihr das? (Beide lachen)
Roland: Das ist ziemlich einmalig. Wir lachen viel zusammen, geplant und ungeplant. Mindestens einmal am Tage zelebrieren wir eine Lach-Meditation. Und jeder von uns hat eine gewisse Kompetenz in seinem Leben entwickelt; wir waren vorher schon in Beziehungen bzw. verheiratet. Da kriegt man eine gewisse Übung und hat hoffentlich aus Fehlern gelernt – gerade in Bezug auf Kontrolle. Das Thema Kontrolle taucht sehr häufig in Beziehungen auf. Es soll sogar Frauen geben, die ihre Männer kontrollieren wollen. Das haben wir uns weg gelacht, und machen es einfach nicht mehr. Dadurch ist diese Positivität und Kreativität bei uns im Alltag gegenwärtig. Wir streiten uns praktisch nie, und wir reden auch nicht sehr viel. So kommen wir in eine Stimmung, wo wir empfinden: Es ist alles richtig, wie es in diesem Augenblick ist. Ein gutes Werkzeug ist das Ja-Sagen, das Ja-Sagen zueinander, das Ja-Sagen zu den Ideen des anderen. Wir üben uns darin, die Ideen des anderen immer mit dem Kommentar „Super-Idee, olé!“ zu begrüssen. Das ist auch ein Gesetz aus der Theater-Improvisation, wenn zwei Leute auf der Bühne stehen; dass sie immer den anderen unterstützen und ja sagen. Dadurch entsteht der Fluss.
Andreas: Und du kannst das, selbst wenn du eine Idee oder einen Gedanken komisch findest?
Roland: Ich denke, wir haben ein gewisses Reife-Niveau. Wir haben so viel Vertrauen ineinander, dass wir wissen, dass der andere nichts Dummes macht. Durch die Erfahrung wissen wir, dass es jeder von uns richtig macht. Das ist wunderbar und macht sehr viel Spass. Ich brauche deswegen nicht unbedingt ein Gemeinschaftsfeld. Gleichzeitig ist mein Thema nach wie vor: Wie können wir eine Gruppe inspirieren, so wie du es tust? Und wie geht das im grösseren Massstab?
Wir kommen auf die Schweiz zurück, auf die neue Schweiz. Ich analysiere mal: Ein nächster Schritt für die Schweiz könnte sein, dass grössere Bevölkerungsgruppen diese Bliss-Erfahrung machen können. Sie könnten die Trennung zwischen Körper, Geist und Seele, die im Europa der letzten Jahrhunderte wie eine Epidemie um sich gegriffen hat, überwinden.
Was sind deine Gedanken für eine Schweiz der Zukunft? Etwas, das über deine Aussagen von vorher hinausgeht? Wie sieht es politisch, wie sieht es wirtschaftspolitisch aus?
Wir reden hier von persönlicher Transformation. Aber wir können auch von nationaler Transformation reden. Welche Art von Wachstumsprozess kann in der Schweiz geschehen? Wie kann eine grössere, ganzheitliche Fülle erzeugt werden?
Andreas: Ich glaube, dass es erst einmal „chlöpfen“ muss. (Krachen; es muss eine Katastrophe passieren). Erst dann wird Wachstum Wirklichkeit. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es aus sich heraus geschieht. Er gibt Menschen wie du, die sehr bewusst sind, die Bescheid wissen. Sie können neue Felder kreieren, wo etwas entstehen kann. Aber ein grosser Teil der Menschen ist erst dann bereit, aus dem leidvollen Spiel der Trennung und des Materialismus auszusteigen, wenn der Leidensdruck sehr gross wird. Sie merken dann, dass da etwas nicht stimmt: ,Eigentlich stimmt das nicht, was ich da mache. Es ist nicht stimmig, was um mich herum passiert‘. Dann drücken Ereignisse wie Fukushima mehr und mehr in die Richtung. Wahrscheinlich werden in nächster Zeit mehr und mehr solche Dinge passieren, so dass Menschen auf einmal sagen: So will ich nicht weiter agieren. Ich will jetzt endlich wissen, worum es wirklich geht. Dann ist es wichtig, dass Menschen da sind, die etwas zu sagen haben, die echte Räume öffnen, die Alternativen aufzeigen können. Es gibt die Möglichkeit, gemeinsam eine Wirklichkeit zu erschaffen, in der wir, du und ich, sehr glücklich sein können. In der Trennungs-Realität, in dieser Dummheit, war das nicht möglich, aber in der Einheit wird es plötzlich Wirklichkeit. Das wird der Weg sein. Es ist wunderbar und sehr wichtig, dass es zunächst mal Biotope gibt, Orte, die bereits mit dem Kreieren der neuen Wirklichkeit angefangen haben. Zum Beispiel Thielle in der Schweiz, oder Tamera in Portugal. Oder eben kreative Spiel-Orte wie das Tanzen. Für diese Pioniere oder Pionier-Orte wird eine grosse Aufgabe entstehen.
Roland: Wenn der Burn-Out passiert…
Andreas: Beziehungen, Burn-Out, Depressionen, psychosomatische Krankheiten. Wunderbar (beide lachen). Der Leidensdruck wird endlich hoch genug.
Roland: Das Ideal wäre, dass wir das Leiden als Wachstums-Motor nicht mehr brauchen, dass wir mit Bewusstheit schon vorher die Zeichen wahrnehmen, bevor es zur Katastrophe kommt. Ich stelle mir Inspirationen in der Öffentlichkeit vor, ich kann mir einen anregenden Fernsehsender vorstellen, der wirkliche Substanz bringt. So könnten die Menschen über die grossen Kanäle etwas Wertvolles bekommen.
Tröndle: Woran liegt es, dass das noch nicht passiert? Haben die Medien nicht den Mut?
Roland: Ich habe in dieser Hinsicht gute Erfahrungen gemacht während meiner intensiven Zeit als lachender Philosoph. Die Medienleute freuten sich über die guten Nachrichten und liessen sich anstecken. Später gab es auch Absagen. Ich glaube, es gibt in der Medienlandschaft eine gegenseitige Falsch-Wahrnehmung. Die Massenmedien glauben, dass die Menschen nur Sensationen wollen. Andererseits sind es die Konsumenten nicht gewöhnt, positive oder substanzielle Dinge aufzunehmen. Wenn solche guten Dinge gesendet oder geschrieben werden, dann sind plötzlich tausende daran interessiert. Andere Länder sind da schon weiter als die Schweiz, scheint mir. Z.B. gibt es an der Universität in Santiago de Chile einen Radiosender, Conversando en Positivo (Positive Gespräche), der weltweit ausgestrahlt wird und sehr inspirierende Interviews bringt.
Wir versuchen jetzt, das Ganze zusammen zu fassen. Wie war es für dich?
Andreas: Schön. Sehr bereichernd. Es geht ja auch darum, immer wieder zu wissen, was ich tue. Es ist wie eine Erinnerung daran, um was es mir eigentlich geht. Da ist es wichtig, dass man mich ab und zu fragt: Was willst du eigentlich? Das ist Gold wert.
Diesen eigentlichen Sinn vergisst man manchmal, wenn man intensiv im Geschäft ist, wenn man öffentlich wird. Da gibt es so viele Faktoren wie Business, Markt, Organisation – lauter Ego-Sachen. Aber wir sind halt drin. Manchmal wäre ich gerne Jesus, und ginge einfach auf die Strasse um zu verkünden, ohne an irgend etwas anderes zu denken. Aber wir müssen uns an die Gegebenheiten ein Stück weit anpassen. Zum Beispiel: Wie können wir in die Felder hinein kommen, die wirklich wirksam sind? In die Wirtschaft, in die Medien. Da muss man sich manchmal sozusagen verrenken, damit man einen Zugang findet. Deswegen ist das eigene Profil und die Frage, worum es eigentlich geht, so wichtig. Manchmal vergesse ich das, wenn das andere so überhand nimmt, wenn ich nur noch E-Mails abrufe und beantworte. Das wird mir manchmal echt zu viel. Da kommt dann der Verstand wieder so stark ins Spiel. Ich bin dann in einem anderen Zustand als ich immer wieder predige.
Roland: Das wäre dann vielleicht dein persönlicher Schritt, wenn ich das als Philosoph sagen darf. Du darfst dich ruhig höher selbst begreifen, im „höheren Selbst“. Du bist einer, der diese Verschmelzungszustände wirklich moderieren kann. Deswegen darfst du dich auch innerlich entsprechend positionieren. Eigentlich sollte jemand anders diese andere Arbeit für dich machen. Du müsstest davor geschützt werden. Du bist ein „neuer Weiser“. Der neue Weise muss nicht den Sachen nachlaufen, sondern er darf sich konzentrieren auf seine Botschaft und auf seine Fähigkeit.
Ich habe gestern mit einem deiner Teilnehmer gesprochen. Er zeigte sich verzaubert, und er nimmt an sehr vielen dieser Seminare teil. Er sagte allerdings, dass er diese Verzauberung nicht in seinen Alltag übertragen kann. Es ist wie ein Kulturschock für ihn, wenn er wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt.
Ich habe in meiner Seminartätigkeit gelernt, mich nicht zu sehr verantwortlich zu fühlen. Es sind erwachsene Menschen; ich bin nicht für sie – und schon gar nicht für ihre Zukunft – verantwortlich. Ich gebe Tools und Anregungen; wir reden darüber. Wir können sagen: Es ist schon gigantisch, wenn ein Mensch überhaupt einmal so einen Zustand der Einheit, der Fülle, der Liebe zu sich selbst und zu anderen erlebt.
Wenn jemand anders diese Arbeit für dich ausführte, dann könntest du auch zwischendurch das Leben voll geniessen.
Andreas: Es gibt noch andere neue Weise, zum Beispiel die Satsang-Lehrer. Bei einigen von ihnen habe ich das Gefühl, dass sie so weit weg sind. Manche von ihnen zeigen kein wirkliches Mitgefühl, sie sind getrennt vom alltäglichen Leben. Sie erzeugen zwar ein Feld, ein starkes Feld. Wenn man dort hin geht, dann ist man auch berührt, ähnlich wie ich es beschrieben habe. Aber ich könnte dort nicht wirklich mitmachen; da kommt das Guru-Tum zum Zug.
Roland: Beim Satsang ist in meinen Augen immer noch eine Spaltung zwischen dem Lehrer und den Schülern. Do vorne sitzt der Erleuchtete, und hier sitzen wir und fragen. Du hast deine Kurse anders beschrieben. Dort wird es wirklich zur Einheit, und du kannst dich als Leiter in den Prozess hineingeben. Da ist ein wesentlicher Unterschied. Zum Teil wird auch dummes Zeug gefragt; ich habe auf Youtube einiges gesehen. Es gibt aber wunderbare Satsang-Lehrer.
Zurück zu unserem Thema.
Für uns, die philosophischen oder künstlerischen Pioniere, ist es ein Teil des Prozesses, dass wir uns selbst ermächtigen und auch sagen: Ja, das bin ich. Dass wir uns nicht immer wieder selbst in Frage stellen: Ich will kein Guru sein. Ein Guru ist einfach ein Lehrer. Die ganze Verwirrung rund um den Guru, rund um die Autorität, ist überflüssig. Es ist doch gut, wenn jemand mit 50 oder 60 ein bisschen mehr Erfahrung hat als andere, und das den anderen mitteilt. Auch hier sind wir abgetrennt und haben Widerstände. Ein Teil der Tragödie in der westlichen Welt besteht gerade darin, dass es keine Lehrer oder Lehrerinnen gibt. Wo sind die Weisen? Dadurch werden die Menschen orientierungslos. Es gibt keine verlässliche Quelle für Weisheit.
Ich bin übrigens sehr zufrieden mit unserem Gespräch. Für mich war speziell interessant der theologische Hintergrund. Du bist ein philosophischer Kopf, denn diese Themen interessieren dich. Es geht dir nicht nur um das Darleben dieser intuitiven Seite, sondern auch um die Reflexion darüber, um die Einordnung in das grössere Ganze, und für dich selber.
Das Einheits-Erlebnis steht weltweit bevor in der Entwicklung der Menschheit. Wir stehen vor einem Schritt in ein neues Bewusstsein des Spielerischen und der Freude. Da nimmt die Schweiz jetzt schon eine gewisse Führungsrolle ein, wie du bereits am Anfang gesagt hast. Aber sie hat sich auch politisch und wirtschaftlich ihre Freiräume bewahrt. Dadurch ist sie aktionsfähig, sie kann handeln. Andere Länder sind viel abhängiger, oder die wirtschaftlichen Themen beherrschen die gesamte Diskussion. Wir sagen jetzt „Hopp, Schwyz!“ Lasst uns den nächsten Schritt tun!
Zunächst einmal pflegen wir diese Impulse selber in den Oasen und Biotopen der neuen Zeit. Danach kreieren wir Fernsehsendungen oder ähnliche Formen, so dass auch grössere Menschengruppen teilnehmen können. Ich würde gar nicht über dieses Thema schreiben, wenn ich nicht das Gefühl hätte: Da ist etwas im Busch. Der Mythos, die Tell-Sage, die Geschichte – das war alles schon in der Vergangenheit sehr speziell.
Andreas: Tatsächlich gibt es in der Schweiz sehr viel Freiraum. Andererseits, wenn du in die Erfahrung von Einheit reingehst, dann spielen Nationen keine Rolle mehr. Man kann die Nationen höchstens noch als Spiel anerkennen. Dann ist man so verbunden, dass man alles als ein göttliches Spiel sieht. Das Nationen-Spiel – es ist gar nicht so bedeutungsvoll. Wenn man das in Leichtigkeit erkennen kann, dann braucht es auch keine Führungsrolle.
Lieber Rolando
Endlich konnte ich das ganze Buch lesen und werde es sicher noch mehr als einmal tun. Die Fülle von Gedanken haben mich sehr beeindruckt und zum Nachdenken angeregt.
Herzlichen Dank.
Christian